
DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL: Dokumentarfilm aus der Hölle
Warnung: In diesem Text wird nach Herzenslust gespoilert!
Zugegeben, viele aktuelle Kinofilme spielen in den 1920er Jahren. Aber Vorsicht: DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL kredenzt keine Golden Twenties-Nostalgie, keine Babylon-Großstadtmythen, sondern bitterste Armut und Kampf ums Überleben. In finstere Schwarzweiß-Bilder geb(r)annt, mit Stilzitaten aus expressionistischen Stummfilmen versehen, führt das Kinodrama ins Kopenhagen am Ende des Ersten Weltkrieges:
Das Einkommen der jungen Fabrikarbeiterin Karoline reicht nicht zum Überleben. Ihr Mann mit zerschossenen Gesicht aus dem Krieg und muss sein klägliches Brot in der Freakshow verdienen. Obwohl er seinen Gesichts-Torso hinter einer Maske verbirgt, hält Karoline es nicht aus mit ihm. Sie beginnt eine Affäre mit dem Firmenchef, hofft auf Liebesglück und Wohlstand. Aber kaum ist sie schwanger, droht die Mutter des Geliebten mit Enterbung. Daraufhin lässt er Karoline fallen. Schlimmer noch: Sie verliert in Job in der Firma.
In ihrer Not verkauft Karoline sich als Amme in einer geheimnisvollen Adoptionsagentur. Bald wird ihr klar, dass hinter diesem Label ein Serienmord abläuft. Die Leichen der Neugeborenen landen im Abfluss oder werden verbrannt. Karolines Arbeitgeberin erklärt: „Die Welt ist furchtbar. Aber wir müssen glauben, dass sie nicht so ist.“
Der schwedische Regie-Preisträger Magnus von Horn enttarnt eine Gesellschaft, die ihren Opfern sogar das Existenzminimum verweigert, sie in tiefste Abgründe stürzt – um sie am Ende selbstgerecht zu verurteilen. Wer glaubt, die Story sei nur finstere Fiktion eines Drehbuchschreibers mit Vorliebe für Worst Case-Szenarien, irrt leider: Der Film basiert auf einer wahren Geschichte! Eine, die in Zeiten von Miethorror und Inflation hohe Aktualität besitzt.
Die Regie setzt weder auf Thrill noch auf Mitleid. Ebenso wenig traktiert sie das Publikum mit einer „Wertung“ der Charaktere. DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL ist ein Dokumentarfilm aus der Hölle: Wenn die alte Vermieterin von Karoline ihr Geld einfordert, scheint deren Gesicht von Wut, Gier und Angst gleichermaßen verzerrt.