EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE

Normalerweise würde ich an dieser Stelle euren Blick eher auf einen kleineren Film lenken wollen; eine unentdeckte Perle, einen Geheimtipp oder einfach einen Film, der so schlecht vermarktet oder rezensiert wird, dass ich nur „Geht verdammt nochmal rein, es lohnt sich!“ rufen möchte. EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE braucht wahrscheinlich mich nicht, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Prämisse ist so verrückt, der Trailer wird der Abgedrehtheit des Films mehr als gerecht und der Film hält das Versprechen seines Titels, denn er ist wirklich alles, zu jederzeit auf einmal. Ein wilder Mix aus Genres, Stilen, Filmmaterial und Kinozitaten – auf Stereoiden! Fans des abgedrehten Films und Kinonerds kommen hier gleichermaßen definitiv auf ihre Kosten. Aber ihr könnt euch schon denken: Der Film bietet viel mehr als nur das, weswegen er einen Filmtipp von mir wert ist.

Natürlich hat auch mich der skurrile Humor oder die Popcorn-SciFi-Martial Arts-Action (wartet nur auf die Szenen mit dem Fanny Pack oder den Steinen!) mitgerissen. Die größte Stärke von EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE ist für mich aber nicht, dass das Regisseurduo Daniels einen Film abliefern, der schnell auch nur eine Art postmoderner Remix des Kinos hätte sein können. Daniels sind Meister des Chaos und unter ihrer Kontrolle durchzieht den Film ein roter Faden, der die ganzen Ideen und Einfälle, aus denen andere Regisseure sicherlich mehrere Filme gemacht hätten, zu einem runden Ganzen zusammenfügt. EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE ist ein wilder Ritt durch Genres und Stile, aber er ist vor allem eine überraschend emotionale Meditation über Themen wie z.B. Depression, verpasste Chancen, Generational Trauma und Familie – nur statt „zur Ruhe zu kommen“ ziehen die Daniels das Tempo an. Als emotionaler und narrativer Anker steht ihnen mit Michelle Yeoh eine der großartigsten Schauspielerinnen unserer Zeit zur Seite, die hier ihr beachtliches Repertoire von Talenten einsetzen darf, sei es Martial Arts, perfektes Comedic Timing oder die Fähigkeit, mit den kleinsten Gesten die größten Emotionen zu vermitteln.

Evelyn (Michelle Yeoh) ist eine chinesisch-amerikanische Einwanderin der ersten Generation. Sie hat nur wenig Freude im Leben, dafür umso mehr Stress: Sie leitet einen wenig erfolgreichen Waschsalon und nun steht auch eine Steuerprüfung an. Auch ihr überaus netter aber wenig durchsetzungsfähiger Ehemann Waymond (Ke Huy Quan) ist unglücklich und möchte sich scheiden lassen. Ihre Tochter Joy (Stephanie Hsu) möchte, dass Evelyn Partnerin Becky (Tallie Medel) akzeptiert und zu allem Überfluss setzt auch der Besuch ihres Vaters Gong Gong (James Hong) sie unter Druck. Im Finanzamt stellt Evelyn eine Veränderung in Waymond fest. Alpha Waymond, wie sich dieser veränderte Waymond nennt, behauptet, er käme aus einem Paralleluniversum in dem die Menschen gelernt hätten, zwischen den eigenen Identitäten in Paralleluniversen zu springen. Jede Entscheidung führt dazu, dass sich Universen aufsplitten und eine schier unendliche Anzahl an Universen in einem Multiversum kreieren durch die die Menschen aus dem Alphaversum beliebig springen können. Aus dem Alphaversum jedoch sucht Jobu Topaki die Zerstörung aller Universen und nur die Evelyn aus unserem Universum hat das Potenzial, alle zu retten. Evelyn muss sich der Fähigkeiten aller ihrer Parallelidentitäten bedienen, um diesem Feind entgegenzutreten. So erhält sie auch einen wehmütigen Einblick in alle Versionen ihrer selbst, die sie hätte sein können.

Dass das Regisseurduo Daniels die Fähigkeiten hat, aus solcher Prämisse einen emotional und thematisch interessanten Film weben können, haben Sie schon zuletzt mit SWISS ARMY MAN bewiesen, wo sie anhand einer absurden One-Trick-Pony-Prämisse (Paul Dano strandet und wird gerettet durch einen dauerfurzenden toten Daniel Radcliffe) Überlegungen über toxische Männlichkeit und einseitig gerichtete Affektionen gemacht haben. Auch in EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE wird schnell klar, dass der Film einen thematischen Überbau verfügt. Wer hat sich nicht schonmal (bei der Anfertigung der Steuererklärung) gefragt, ob man nicht durch andere Entscheidungen in einer besseren Situation gelandet wäre? In einer Welt voller Möglichkeiten bedeutet jedes „Was wäre, wenn?“ und „Warum?“ ein kleiner Stich Unglück: Warum habe ich mit Mitte 30 immer noch kein eigenes Haus? Was wäre, wenn ich nur etwas studiert hätte, mit dem man mehr Geld verdient? Warum war ich nicht ehrgeiziger? Was wäre, wenn ich meinem Kopf und nicht meinem Herzen gefolgt wäre?

Die Protagonistin Evelyn ist schier überwältigt mit ihrem eigenen Unglück und bereut die Entscheidungen, die sie getroffen hat und zu ihrer Situation geführt haben. So sehr tatsächlich, dass sie sich schon mit dem Blick in die erste Parallelversion ihrer Selbst (ein erfolgreicher Martial Arts Star) darin verlieren möchte. Dass Sie dort nur deswegen erfolgreich geworden ist, weil Sie nicht mit Waymond nach Amerika gegangen ist, würde sie retrospektiv sofort in Kauf nehmen. Es hilft auch nicht, dass Alpha Waymond ihr sagt, dass sie die schlechteste Version ihrer selbst ist, dass alle ihre Entscheidungen die falschen waren. Das eigene Unglück bedeutet dann auch das Unglück der Nächsten; des Ehemanns, der Tochter.** EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE lotet thematisch diesen Nihilismus aus, adressiert Ängste der Generation Z, interessiert sich für das Unglück, dass uns verpasste Chancen bedeuten und nimmt Generational Trauma, das unterbewusste Weitergeben von Erfahrungen und Wünschen an die nächste Generation, in seine thematische DNA auf. Ohne hier viel spoilern zu wollen: Während all die wunderbaren Fähigkeiten, deren Evelyn sich von ihren Parallelidentitäten bedient, für ein wildes Action- und Comedy-Spektakel sorgen, sind es nicht diese Fähigkeiten – sinnbildhaft für jede vermeintlich falsche oder verpasste Entscheidung Evelyns – die den Kampf zwischen Evelyn und Jobu Tupaki entscheiden. EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE kommt an ein zutiefst menschliches und emotional befriedigendes Ende. Es stellt zuletzt nicht nur die Frage danach, wie wir mit dem widersprüchlichen Durcheinander, dass wir Menschen oft sind, umgehen oder uns mit unseren Entscheidungen aussöhnen können (und dadurch unseren Ballast nicht auf unsere Kinder ablegen). Die Frage „Was wäre, wenn?“ lässt sich nämlich genauso auch von der anderen Seite der Entscheidung stellen. Wie Waymond in einem Paralleluniversum, ebenfalls finanziell erfolgreich, zum Martial Arts Star Evelyn: Er hätte vielleicht gerne seinen Erfolg darangegeben um mit Evelyn gemeinsam einen erfolglosen Waschsalon zu betreiben.

Wir können nicht jede Version unserer selbst, immer und zur gleichen Zeit sein. Mit jeder Entscheidung schließen wir eine Tür, öffnen aber eine andere. Jede Version unserer selbst hat Chancen verpasst, aber andere wahrgenommen. Die beste Version unserer selbst ist eine Standpunktfrage. Das Glück liegt darin zu sehen, dass wir uns mit jeder Entscheidung FÜR eine Version unserer selbst entscheiden und nicht gegen alle anderen. Das wir glückliche Momente erleben durften, welches andere Versionen unserer selbst vielleicht nie gekannt haben dürften. Mit diesem Gefühl aus dem Kino gehen zu können finde ich doch sehr tröstlich.

** Es ist faszinierend, wie viele Filme sich letzte Zeit dem Thema Generational Trauma und persönlichem Unglück zuwenden, in denen es nicht „das Böse“ gibt, sondern der Konflikt unbewusst und ungewollt durch nicht vollständig verarbeitete und weitergegebene schlechte Erfahrung oder Unglück entsteht. Pixars TURNING RED (R.: Domee Shi) oder Lulu Wangs THE FAREWELL sind ganz wunderbare Beispiele für den gleichen Konflikt in einem ganz anderen Genre/anderer Erzählweise – und auch dort stehen asiatisch-amerikanische Familien im Mittelpunkt, was dem ganzen auch eine Dimension von Clash of Cultures, geplatzten Träumen und dem American Dream nahelegt.